(1) am Straßenhang

Sonntags war Bücherei-Tag. Nach dem obligatorischen Kirchenbesuch gingen wir geschlossen als Familie in die daran angrenzende Bücherei. Es gab dort viele kleine Ecken in die man sich nach der zwanghaften Kollektiverfahrung rasch verkriechen konnte. Man war wieder bei sich. Dennoch war die Bücherei auch ein viel besuchter Ort. Leute strömten wie selbstverständlich ein und aus. Allerdings entstand daraus kein Gefühl von Enge. Kein paranoides Gefühl von: Geht weg ihr vielen Leute! Das ist unserer Platz, oder unsere Bücherei. Man gewann den Eindruck, dass die Bücherei ein Ort war, bei dem wir ganz bei uns sein konnten, ohne das Gefühl haben zu müssen, dass wir das, was uns umgab, die Bücher, den Raum und vor allem die Kassetten, besitzen wollten, aus Angst wir würden sie irgendwann nichtmehr haben. Aus Angst sie würden uns entzogen werden, auf ewig, durch die vielen Menschen, die diese Bücherei benutzten. 

Heute kaufe ich meine Bücher allesamt privat über einen online-Versandhandel. Ich kaufe sie bei Amazon. Ich habe Angst, wenn ich in die Bücherei gehe und sie mir ausleihe, dass andere Leute mir meine Phantasien klauen. Bücher prägen mich in einem so hohen Maße, dass ich als einziger meine Erinnerungen, meine Gefühle und Imaginationen, die ich mit den Büchern verbinde, selbst besitzen will.

Das wäre jedenfalls die romantische Antwort auf die Frage, warum ich die Bücher nur noch kaufe und nicht bloß entleihe. Raffiniert, weil der Wahn des Besitzen-Wollens letztlich eher pathologisch als romantisch wäre. Die Idee, dass ich so eine emotionale Bindung zu Büchern aufbauen kann, dass ich sie nichtmehr weggeben will, gefällt mir, doch sie bleibt paranoides Symptom einer tiefer liegenden Krankheit.

Eine weniger romantische Antwort wäre, dass ich im Traum nicht mehr daran denken würde regelmäßig eine Bücherei zu betreten. Sie kommen mir als Orte einfach nicht mehr in den Sinn. Offensichtlich liegt es nicht daran, dass ich Bücher nicht genug liebe. Ich kaufe sie mir ständig. Ich lese sie auch. Es liegt nicht daran, dass Büchereien mir etwa zu antiquiert erscheinen. Gemäß der wohlbehaltenden Erinnerung meiner Kindheit gegenüber müsste ich wohnlich eingerichtete Büchersäle lieben. Der Grund ist nicht mal der, das Büchereien per se als Orte nicht mehr einladend sind. Das sie etwa nur noch geschichtete moderne allzweck-Platten sind, die durch ihre dominante Funktionalität ungemütlich werden: Wobei die Tendenz besteht...

Ich gehe nichtmehr in die Bücherei, weil ich es nichtmehr muss. Die Bücherei kommt mir nicht mehr in den Sinn, weil sie nicht Teil einer übergeordneten Lebensweise ist, die mich veranlasst hinein zu gehen. Meine Lebensweise bleibt vordergründig dem privaten Konsum verpflichtet und darüber hinaus der Privatisierung des Gedankenguts selbst. Warum sollte ich eine Bücherei aufsuchen, wenn sie mir etwas verspricht, was längst nichtmehr existiert: öffentliche Bildung, öffentliches Studium, öffentlicher Zugang zu Büchern, die kollektiven Nutzung eines gesellschaftlichen Lebens. Bücher funktionieren nur, wenn sie allen gehören. Meine Halbbildung, die ich für mein Studium brauche, kann ich mir auch in meiner privaten Bücherei zusammenstellen. In meiner Wohnung bin ich sicher. Sicher wovor? Ich richte mich jedenfalls ein. Die Bücherei betrete ich nicht, weil sie mir keinen Anlass geben würde hineinzugehen, sondern weil die Struktur, in der ich lebe mir den Gedanken an sie verunmöglicht hat. Ich bilde mich also. Es bleibt nicht bei der Bücherei. Das Gefühl in meiner Kindheit war von einem wir geprägt. Ich frage mich ob es damals eine kindliche Illusion war, oder ob es das wir wirklich mal für mich gegeben hat. 

Entweder bin ich krank oder da krankt etwas. Vor dem Bereich außerhalb meiner privaten Wohnung, die nicht mal mir gehört, graust es mir. Die Gänge zum Supermarkt sind davon ausgenommen. Ich weiß, was mich erwartet. In einem Lidl finde ich mich schnell zurecht. Bei allem anderen zwinge ich mich. Spazieren zu gehen ist eine Überwindung. 

Ich habe es verlernt zu denken, dass der Park, den es zum Glück noch gibt und zehn Minuten von meine Haus entfernt ist, eine Fläche unserer gemeinsamen Nutzung sein kann. Das wir in der Politik ekelt mich unterdessen an. Ich meine mit Nutzung, nicht einfach den Umstand, dass ich durch den Park schlendern kann. Da muss doch noch mehr sein? Der Park kann doch nicht bloß Fläche sein. Warum ist er nicht bereits Ort und damit Erinnerung geworden?

Die Fläche oder der Ort ist gewissermaßen außer mir. Ich fühle mich sobald ich meine Haustür verlasse nicht so als würde ich auf der Straße, auf der ich laufe, sicher sein. Da draußen krankt etwas. Und ich will mich damit nicht anstecken. Mein innerster Wunsch in Bezug auf die Straße wäre, dass auch ich Anteil an ihr habe. Man kennt mich, man grüßt mich. Wir nicken uns zu. Anteil haben. Dieser Anteil ist nur noch der Anteil an einem Aktienpaket. Ich habe für das Gefühl, welches meinen Verlust an Öffentlichkeit ausdrücken soll nicht einmal eine Sprache, die nicht auch schon kapitalisiert ist. 

Jedenfalls fühle ich mich im öffentlichen Raum wie ein Fremdkörper, wobei der öffentliche Raum doch eigentlich uns gehören sollte. Wer auch immer dieses uns ist. Und ich müsste ein Teil von diesem uns sein, sodass ich mich nicht fremd auf der Straße, in dem Park und in der Bücherei fühlen muss, in die ich aufgrund dessen überhaupt nicht mehr gehe. Ich will damit nicht sagen ich will in diesem uns versinken. Untergehen in der Masse. Ich will nur die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass es doch sinnvoll sein könnte es würde da eine Gesellschaft geben, in der nicht alles der Logik des Privaten unterworfen bleiben muss. Das wäre wohl nicht einfach eine Frage politischer Entscheidung. 

Wann hat der öffentliche Raum eigentlich aufgehört zu existieren? War es nach dem Thaterismus oder dem Schröderismus oder dem Neoliberalismus und wie diese furchtbaren ismen auch alle heißen? Wir alle haben keinen öffentlichen Raum mehr. Uns fällt es nicht auf. Es sitzt bereits tief in uns drin. Da klafft etwas, sobald wir das Haus verlassen, dass uns nicht gehört. 

Eigentlich lässt sich genau genommen nichtmehr von privat und öffentlich reden, da ich nicht mal etwas besitze außer meine Bücher und mein kleines Einkommen, dass es Wert wäre privat zu nennen. Es gibt nichts an mir, was wesentlich privat wäre im Gegenteil. Ich habe das Gefühl die Teletechnologie kehrt alles, was ich privat hätte nennen können, meine Gedanken, meine Gefühle, meine Freundschaft nach außen. Gleichzeitig bin ich von der Logik des Privaten so durchdrungen, dass ich nicht mehr weiß was Öffentlichkeit ist. Das sie eigentlich existiert? Das sie mal existiert hat? Da spukt etwas.  

Vor Corona, in der sich wahrscheinlich aus gutem Grunde das öffentliche Leben zurückgezogen hat, ging ich regelmäßig Abends spazieren. Ich wollte lernen wieder zu flanieren, wie Baudelaire oder Benjamin. Berlin. Ich wollte die Großstadt der Postmoderne aufsaugen, sie in den Details, in ihrer Mikrologie entdecken. Ich ging eher verfolgt und schizophren durch die Straßen. Konnte keine klaren Gedanken fassen. Als wäre das Flanieren verunmöglicht. Die Stadt hebt mich aus den Angeln, macht mich zum Fremdkörper ihrer schmutzigen Reinheit. War ich es? Oder stimmt da draußen etwas nicht? Ich konnte nicht nachvollziehen woher es kam. Das permanente Gefühl: die Stadt lebt nicht. Ich kann nicht in ihr leben. Außer sie ist vollgestopft mit Antidepressiva, Speed, Koks oder sonst einem Beschleunigungsmittel. Dabei sind die passiven Blicke, die schrägt einen noch erwischen, leer. Haben Sie in der U-Bahn jemanden mal für zwei Sekunden in die Augen geschaut? Ich auch nicht, bin kein Romantiker. Falls mich doch mal ein Blick trifft, will jemand Geld von mir. Dann schaue ich weg. Jemand winkt mir zu. Ganz verstohlen von der anderen Seite des U-Bahn Schachts: „Not waving, but drowning“.

Auf dem Rückweg in die rettende Wohnung: Ich kam an einem Späti vorbei, der an einer Straßenecke war. Vor dem Späti in einem beträchtlichen Umkreis, saßen viele Leute Bier-Trinkend an der Straßenecke. Zwei Jugendliche traten mit mir ein um sich nach ihrer Aussage noch ein Bier fürs „cornern“ zu holen. Ich kannte das Wort cornern natürlich. Ich habe selbst oft gecornert. Es meint soviel wie, sich mit Freunden auf der Ecke treffen, um dort zu trinken. 

Da viel es mir ein. Die Erklärung, warum ich nicht mehr in die Bibliothek gehe. Cornern. Die Menschen treffen sich auf der Ecke. Die Ecke ist ein Ort der keiner ist. Ein Nicht-Ort. Der Sinn für einen Ort ist ihnen abhanden gekommen. Die Ecke ist nicht mal Fläche. Sie ist ein Übergang von einer Straße in die andere. Und da stehen die Leute und suchen ihren Platz. Wir cornern heute, weil es die einzige Möglichkeit ist überhaupt noch öffentlich zu sein. Die ganze Stadt ist Nachts dunkel. Sie lebt nicht. Die Parks, die öffentlichen Plätze, die Brücken, die Bänke. Woanders treffen die Leute sich auf der Ecke, weil nur an diesem Ort es noch möglich ist. Das Bier am Späti ist billig. Wie lange noch? Berlin-Mitte ist hell erleuchtet. Niemand ist da. 

PS:

Brechts (1953) lyrische Persona saß auch schon am Straßenhang

Der Radwechsel

ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
mit Ungeduld?

Not waving,but drowning:

https://www.youtube.com/watch?v=GYvLYf_GJhM&list=OLAK5uy_k0kbcsOtvfkmWCywASpgnleSvNf5afeuo&ab_channel=LoyleCarner-Topic


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